Retrospektive Überprüfung der Indikationsstellung zur Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts bei Verdacht auf einen Normaldruckhydrozephalus

Erstveröffentlichung
2023-06-09Authors
Seisenberger, Kerstin
Referee
Schulz, ChrisSchmitz, Bernd
Dissertation
Faculties
Medizinische FakultätInstitutions
Bundeswehrkrankenhaus Ulm (BWK)Universität Ulm
Abstract
Fast sechzig Jahre nach seiner Entdeckung ist das Krankheitsbild des idiopathischen Normaldruckhydrozephalus (iNPH) noch immer nicht vollumfänglich verstanden und seine Diagnostik zentraler Gegenstand der Forschung. Viele Untersuchungsmethoden wurden entwickelt, sind aber häufig schlecht validiert und in der Literatur umstritten. Die einzige etablierte Therapie-Option besteht nach wie vor in der chirurgischen Shuntimplantation. Eine verlässliche Prädiktion der Shuntresponse ist jedoch ein persistentes Problem.
Ziel dieser Arbeit ist nicht die Validation einzelner Methoden, sondern die Überprüfung, inwiefern sich durchgeführte Diagnostik auf die Indikation zur Shuntimplantation auswirkt. Werden in der Praxis die nötigen Konsequenzen aus den Untersuchungen gezogen und adäquat bei der Therapieentscheidung umgesetzt?
Die Qualität der Daten zeichnet sich besonders dadurch aus, dass am Bundeswehrkrankenhaus Ulm mit intrakranieller Druck-(ICP)Messung, Bolus-Infusions-Testung (BIFT) und Phasenkontrast-MRT hochwertige Diagnostik-Methoden Anwendung finden, welche anderen Kliniken nicht regelhaft zur Verfügung stehen, wie eine eigens durchgeführte Erhebung an 25 deutschen neurochirurgischen Kliniken zeigt.
In dieser prospektiven, monozentrischen Studie erfolgt die anonymisierte Aufarbeitung der Daten von 53 Patienten, welche mit V.a. einen idiopathischen Normaldruckhydrozephalus abgeklärt worden sind, mit anschließender Beurteilung durch neun Ärzte aus der Neurochirurgie (Rater). Hierzu wird für jeden Patienten ein anonymer Steckbrief erstellt. Dieser beinhaltet einen Überblick über das klinische Erscheinungsbild mit Hakim-Trias, Geschlecht, Alter und Begleiterkrankungen, sowie Ergebnisse und Befunde der Diagnostik inklusive Hirndruckmessung mit Spinal Tap und Bolus-Infusionstest, wie auch eine MRT-Bildgebung des Kopfes mit Phasenkontrast-Sequenz. Die Rater unterschiedlichen Ausbildungsstands prüfen anhand der 53 Steckbriefe ohne Kenntnis des Patienten die Indikation zur Anlage eines Ventrikuloperitoneal-Shunts. Diese Entscheidung wird dann untereinander auf Kongruenz geprüft und mit der tatsächlichen Indikation der Behandler verglichen, sowie im Abstand weniger Monate mittels kleinerer Stichprobe von 10 Datensätzen auf Intrarater-Reliabilität überprüft.
In unserer Untersuchung kann bei der Konkordanzanalyse keine Intrarater-Reliabilität nachgewiesen werden. Es zeigt sich, dass kein statistisch signifikanter Einfluss der durchgeführten Diagnostik auf die Entscheidung für oder gegen eine Shuntimplantation besteht. Dass in der Praxis aus aufwendiger Diagnostik die nötigen Konsequenzen gezogen und adäquat umgesetzt werden, ist anhand der Ergebnisse dieser Arbeit fraglich.
Wenn umfangreiche Informationen aus modernen Untersuchungen nicht ausschlaggebend für die Therapieentscheidung sind, besteht die Frage nach weiteren Einfluss- bzw. Störfaktoren. Wir zeigen, dass eine ökonomische Motivation unwahrscheinlich ist und stellen verhaltenspsychologische Faktoren ins Zentrum der Diskussion. Zudem setzen wir die Ergebnisse in den Kontext der Evidenz basierten Medizin und diskutieren deren Limitationen. Wir schlussfolgern, dass ein Mehr an Information durch umfassendere Diagnostik nicht zwangsläufig zu besseren klinischen Entscheidungen führt. Bei hohen inter- und intraindividuellen Unterschieden in der Bewertung derselben Daten zur Entscheidungsfindung können Strategien wie Zentralisierung, Aufgabenteilung oder Implementierung von Algorithmen Lösungsansätze zur Objektivierung und Standardisierung bieten. In der Zusammenschau postulieren wir für das Krankheitsbild des iNPH, dass zusätzliche Diagnostik für die Indikationsstellung zur Shuntanlage oftmals keinen Benefit aufweist und angesichts medizinischer und ökonomischer Kosten-Nutzen-Analysen häufig nicht zielführend ist. Es sollte künftig überprüft werden, inwiefern sich die Erkenntnisse reproduzieren und auch auf andere Felder der Medizin übertragen lassen. Insbesondere bei komplexen Krankheitsbildern wie dem iNPH mit uneinheitlich validierter Diagnostik und heterogenem Patientenklientel ist es erforderlich, dass eine patientenadaptierte Diagnostik und Therapie auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse unter Integration spezifischer Bedürfnisse als individualisierte Einzelfallentscheidung im Sinne des Patienten erfolgt.
Date created
2022
Subject headings
[GND]: Normaldruck-Hydrozephalus | Neurochirurgie | Medizinische Ethik | Evidenz-basierte Medizin[MeSH]: Evidence-based medicine | Ventriculoperitoneal shunt | Hydrocephalus, Normal pressure | Ethics, Medical
[Free subject headings]: Ventrikuloperitonealshunt | Qualitätsmanagement | Intrarater-Reliabilität | Künstliche Intelligenz | Diagnostik | Objektivierung
[DDC subject group]: DDC 610 / Medicine & health
Metadata
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Please use this identifier to cite or link to this item: http://dx.doi.org/10.18725/OPARU-49026
Seisenberger, Kerstin (2023): Retrospektive Überprüfung der Indikationsstellung zur Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts bei Verdacht auf einen Normaldruckhydrozephalus. Open Access Repositorium der Universität Ulm und Technischen Hochschule Ulm. Dissertation. http://dx.doi.org/10.18725/OPARU-49026
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