Behandlungsverweigerung bei unfreiwilligem Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus- eine qualitative Studie

Erstveröffentlichung
2017-07-19Authors
Hüther, Franziska
Referee
Steinert, TilmanWietersheim, Jörn von
Dissertation
Faculties
Medizinische FakultätInstitutions
UKU. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie IUKU. Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Abstract
Im Jahr 2011 stärkte das Bundesverfassungsgericht durch zwei Beschlüsse die Patientenautonomie, indem es die Möglichkeiten zur Anwendung von Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie einschränkte. Durch das darauf folgende Urteil des Bundesgerichthofs vom 20.6.2012 war eine zwangsweise Behandlung nach dem Betreuungsgesetz nicht mehr möglich. Nach der Neufassung des Betreuungsrechts vom Februar 2013 ist eine zwangsweise Behandlung bei einsichtsunfähigen Patienten nur noch nach gesonderter richterlicher Genehmigung mit hohen Verfahrensanforderungen genehmigungsfähig.
Die Problematik der Zwangsbehandlung und des gestärkten Rechts auf Behandlungsverweigerung wird von Patienten, Ärzten und Angehörigen unterschiedlich erlebt. Ziel der Studie war es, ihre spezifischen Sichtweisen zu explorieren, Konfliktfelder aufzuzeigen und Ansätze für mögliche Lösungen zu finden.
In einer qualitativen Studie wurden mit Patienten, die die verordnete Medikation während ihres stationären Aufenthalts verweigert hatten, ihren Angehörigen sowie mit Ärzten und Pflegekräften problemzentrierte Leitfaden-Interviews durchgeführt. Insgesamt wurden 11 Patienten, 8 Angehörige, 7 Gesundheits- und Krankheitspfleger sowie 6 Ärzte von allgemeinpsychiatrischen Stationen im süddeutschen Raum befragt. Da Patienten mit schizophrenen und bipolaren Erkrankungen erfahrungsgemäß am häufigsten von medikamentösen Zwangsbehandlungen betroffen sind, wurde die Patientenstichprobe auf diese Diagnosegruppen beschränkt. Die Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert. Es entstanden 11,5 Stunden Datenmaterial. Die Daten wurden in Anlehnung an die Grounded Theory Methodology mit Unterstützung durch das Computerprogrammes Atlas.ti ausgewertet. Die Interviews wurden mithilfe eines Modells analysiert, das an das Handlungsparadigma von Strauss und Corbin angelehnt ist.
Die Patienten und Angehörigen betrachteten die Verweigerung aus ihrer persönlichen Lebenssituation heraus, Ärzte und Pflegekräfte hingegen aus ihrem professionellen Blickwinkel. Die Perspektivendivergenz hatte große Auswirkungen auf das gegenseitige Verständnis. Jede Gruppe beklagte aus unterschiedlichen Gründen eine Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit und wünschte sich tragfähige Lösungen, die auch die Idee einer gemeinsamen Entscheidungsfindung beinhalteten. Der rechtliche Rahmen war Pflegepersonal und Ärzten sehr viel bewusster als den Patienten selbst und prägte dadurch ihr Handeln sowie die wahrgenommenen Handlungsspielräume. Die Beschränkungen durch den rechtlichen Rahmen standen in erheblichem Konflikt mit dem Anspruch des medizinischen Personals an eine fachlich kompetente Arbeit und ihrem Verständnis davon, dem Patienten zu nützen und Schaden von ihm abzuwenden. Von den interviewten Angehörigen fühlten sich nicht wenige ohnmächtig gegenüber einer übermächtigen Erkrankung, einem eigenwilligen, durch die Symptome fremd gewordenen Angehörigen und einem Entlastung verheißenden, aber teils wenig transparenten Behandlungssystem. Durch die rechtlichen Bedingungen sahen sich die Angehörigen neuen Belastungen (zum Beispiel durch vorzeitige Entlassung) ausgesetzt. Bei den Patienten spielten das eigene Verständnis der Erkrankung und die Vorerfahrungen mit Behandlern, Medikamenten und Krankheitsfolgen eine zentrale Rolle. Für den Behandlungsalltag lassen sich folgende Handlungsempfehlungen ableiten: Eine patientenzentrierte Behandlung könnte eine Annäherung der Perspektiven ermöglichen. Durch eine gemeinsame Entscheidungsfindung in Form von einvernehmlicher Therapieplanung zwischen Therapeut und Patient und das Erarbeiten von Behandlungsvereinbarungen für mögliche künftige Aufenthalte könnte das Gefühl von Autonomie bei den Patienten gestärkt werden. Im Dialog mit den Patienten bleiben, ihm zuhören, ihm das Gefühl geben, ernst genommen zu werden, sind auch wichtige Schritte, um Zwangssituationen zu vermeiden. Eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung ist von großer Bedeutung für den Patienten und das Behandlungsergebnis. An Gewaltfreiheit und Deeskalation orientierte Stationskonzepte sollten weiterverfolgt und in den Alltag integriert werden, z.B. Möglichkeiten zur Öffnung der Türen und Integration von Peer- Beratern. Auch könnte der Ausbau individuell angepasster alternativer Behandlungsstrukturen und -angebote außerhalb der Station einer unfreiwilligen Aufnahme entgegenwirken, die durch den Verlust von Selbstbestimmung zu einer Verweigerungshaltung anregen kann. Kommt es im klinischen Alltag zu Krisensituationen, sollten primär mildere Mittel, beispielsweise deeskalierende Maßnahmen, durch das Gesundheits- und Krankenpflegepersonal und die Ärzte angewendet werden. Sind Zwangsmedikationen nicht zu vermeiden, sind die Mitarbeiter angehalten, die Traumatisierung der Patienten so gering wie möglich zu halten. Bei komplexen Fällen könnten klinische Ethikberatungen oder ethische Fallberatungen Anlaufstellen sein, um Lösungen zu finden.
Date created
2016
Subject headings
[GND]: Psychisch Kranker | Zwangsbehandlung | Unterbringungsrecht | Betreuungsrecht | Ethischer Konflikt | Selbstbestimmungsrecht | Qualitatives Interview | Grounded theory | Qualitative Inhaltsanalyse[MeSH]: Commitment of mentally ill; Legislation and jurisprudence | Patient advocacy | Personal autonomy
[Free subject headings]: Zwangsmaßnahme | Betreuungsgesetz | Unterbringungsgesetz | Psychiatrie | Behandlungsverweigerung | Zwangseinweisung | Autonomie
[DDC subject group]: DDC 610 / Medicine & health
Metadata
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Please use this identifier to cite or link to this item: http://dx.doi.org/10.18725/OPARU-4435
Hüther, Franziska (2017): Behandlungsverweigerung bei unfreiwilligem Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus- eine qualitative Studie. Open Access Repositorium der Universität Ulm und Technischen Hochschule Ulm. Dissertation. http://dx.doi.org/10.18725/OPARU-4435
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